Landpartie

Palau

Am letzten Tag soll der Taucher gemeinhin nichts tun. Neopren trocknen. Trinkgelder verteilen. Koffer packen. Und Stickstoff abatmen. Wer durch zahlreiche gleichsam aufregende wie aufreibende Tauchgänge noch nicht geschafft genug ist, hat nun Gelegenheit, der Inselwelt mal genauer ins Angesicht zu schauen, welche man bislang ja nur „untenrum“ kennen gelernt hat. Und die über unseren nahen Abschied offenbar unglücklich ist. Zumindest beginnt der Tag regenreich, so dass wir uns ins örtliche Museum flüchten. Das Museum beherbergt neben Dokumenten aus verschiedenen Epochen und Kolonialherrschaften der Inseln, Exponaten von Palau und der benachbarten Inselwelt auch das französische Honorarkonsulat, welches es damit noch relativ gut getroffen hat, denn das deutsche Honorarkonsulat ist in einem Souvenirshop untergebracht. Wir betrachten Zeitzeugnisse der Walfänger, Dokumente spanischer, deutscher, japanischer und amerikanischer Herrschaft, Nachahmungen von Artefakten der handwerklich außerordentlich geschickten Ureinwohner – die Originale befinden sich selbstverständlich längst in Sicherheit in europäischen Museen! Außerdem Wissenswertes über traditionelle Riten, wie die Zeremonie zur Feier der Geburt des ersten Kindes in der matriarchalisch geprägten Gesellschaft sowie die lange Tradition des Betelnuss-Kauens.

Hatte ich immer geglaubt, dass die Seefahrer die Südseeinsulaner schön verarscht haben, als sie als Gastgeschenk Glasperlen mitbrachten, werde ich nun eines Besseren belehrt. Glasperlen wurden als Zahlungsmittel eingesetzt und von Generation zu Generation vererbt. Woher sie ursprünglich stammten, bleibt unklar, allerdings gibt es Hinweise darauf, dass ähnliche Glasperlen auch in alten asiatischen Kulturen als Schmuck und Zahlungsmittel Verwendung fanden. Für alte Original Glasperlen, die heute noch gelegentlich vom Grabräuber Ihres Vertrauens käuflich zu erwerben sind, werden Höchstpreise erzielt. Zu traditionellen Festen tragen die First Ladies eines jeden Clans ihre Glasperlen in verschwenderischer Vielfalt um den Hals, wohingegen jüngere Frauen stolz sind, eine einzige Perle ihr Eigen nennen zu können. Das Geld der benachbarten Inseln Truk und Yap macht sich um den Hals getragen nicht so schön aus, und auch im Portemonnaie trägt es etwas auf. Dort wurde Geld in Form hübscher Scheiben aus dem örtlichen Kalksandstein gefertigt. Je größer die in der Mitte durchlöcherten Steinmünze war, desto höher der Wert. Da manche Clanchefs durchaus zu Reichtum und Ansehen kamen, wog die größte gefundene Steinmünze acht Tonnen und stellte damit sowohl eine ausgesprochen sichere Geldanlage als auch gleichzeitig, sorgfältig vor den Türeingang der Hütte gerollt, ein wirksames Verhütungsmittel dar. Ob der Besitzer auf die Frage „Können Sie wechseln?“ beim Zigarettenkauf von einer Lawine verschüttet wurde, ist nicht überliefert. Das heutige Zahlungsmittel in Palau, der US-Dollar, wird überall akzeptiert, passt in jede Tasche, und ist, so erfährt man aus gut unterrichteten Fälscherkreisen, erheblich leichter herzustellen als die Steinmünzen.

Augustin Krämer, so lernen wir im Museum, war ein deutscher Marinearzt, Anthropologe und Ethnologe. Als Schiffsarzt gelangte er Ende des 19. Jahrhunderts in die Südsee. Nach Untersuchungen auf Hawaii, Samoa und den Marschallinseln führten ihn seine Forschungen 1908 schließlich nach Palau, wo er als Vorfahr des modernen Bloggers fünf Bände mit allen wissenswerten Details über Flora und Fauna, Geschichte, Kultur und Sprache Mikronesiens füllte, während seine Frau Elisabeth mit Aquarellfarben hübsche Illustrationen fertigte. Das Werk besitzt kulturgeschichtlich sicherlich einen höheren Wert als mein Geschreibe. Allerdings hatte Augustin dazu auch mehr als zwei Jahre Zeit, und nicht nur zwei Wochen wie ich. Heute leiht mein Vorfahr im Geiste dem örtlichen Restaurant „Krämer’s“ seinen Namen. Dies liegt zu Fuß nur fünf Minuten von der Tauchbasis entfernt am Yachthafen, und wird von René, einem deutschen Auswanderer geführt. Neben einer köstlichen und kreativen Küche bietet es seinen Gästen einen lebendigen Treffpunkt für einen Tratsch, ein Feierabendbier und alle möglichen anderen Gelegenheiten.

Die Stadt Koror putzt sich für die bevorstehenden Feiertage heraus. Das ist zugegebenermaßen nicht besonders leicht, wenn man den Charme einer amerikanischen Kleinstadt hat, die mit asiatischen Schriftzügen gepimpt wurde, und von deren Fassaden durch das feucht-heiße Klima und ständige Niederschläge die Farbe blättert, während Moos und Flechten und Ranken aller Art versuchen, in einer letzten Schlacht gegen die Zivilisation die Inseln zurück zu gewinnen, während das Wellblech auf dem Dach den Kampf gegen den Rost aufgibt. In dieser Umgebung wirkt ein „Merry Christmas“ doch recht befremdlich. Alles in allem erscheint die Inselwelt in ihrer tropischen Üppigkeit auf Google Earth doch deutlich pittoresker als im Schwesterprogramm Street view.
Da es jetzt nur noch wenig vom Himmel tropft, lassen wir die Stadt hinter uns. Mit dem Mietwagen begeben wir uns auf eine Landpartie, um die örtlichen Sehenswürdigkeiten abzufahren. Nach kaum fünfzehn Minuten Fahrzeit hört die Straße plötzlich auf. Was bei uns Schlaglöcher sind, ist hier fünfzig Meter lang, sechs Meter breit und zwanzig Meter tief: ein Erdrutsch boykottiert die von der Volksrepublik China gesponserten straßenbaulichen Bemühungen, während kleine gelbe Schilder „Umleitung“ verkünden. Dort, wo kein Stück Hang den Asphalt mit sich in die Tiefe gerissen hat, ist der Straßenbelag so glatt wie ein Bergsee, und rechts und links gesäumt von Hibiskus und allerlei Pflanzen, die bei uns in Töpfen auf der Fensterbank wachsen. Wir lernen, wie Ingwer aussieht, wenn man die knorrigen Wurzeln nicht zu Würzzwecken im Kühlschrank aufbewahrt, sondern dem Austreiben freien Lauf lässt. Würde man der üppigen Vegetation, die nur wenige Meter neben der Straße beginnt, gleiches zugestehen, hätte der Dschungel sich in weniger als fünf Jahren die Straße komplett zurückerobert.

Dem Dschungel abgetrutzt wurde zuletzt ein gutes Stück Land mitten im Nirgendwo, malerisch gelegen auf einem Hügel im Zentrum der Hauptinsel. Hier entstand – unterstützt aus Mitteln der Europäischen Union – ein Prunkbau, der „Capitol“ genannt wird, und mit dem großen amerikanischen Bruder immerhin den Kuppelbau gemein hat. Als wir zu diesem Zentrum der Macht der Südseerepublik gelangen, ist Feiertag, und daher kein Mensch da. Noch nicht mal ein Pförtner. So lustwandeln wir über das Außengelände, und nehmen staunend zur Kenntnis, dass sowohl Präsident als auch Vizepräsident ihre Büros schön ebenerdig und direkt links und rechts am Haupteingang haben. Da ist man feierabends einfach schneller durch die Tür. Damit das Epizentrum Palauischer Politik für jeden Betrachter unmittelbar ersichtlich ist, befinden sich direkt unter den Fenstern der Büros kleine Messingschilder, die verkünden, wer hinter diesen residiert. Auch unerfahrene Attentäter und Amokläufer finden sich so direkt zurecht, ohne erst lange nach dem Weg fragen zu müssen. Zum Glück ist im Capitol ja sowieso nicht so viel los. Und sollte tatsächlich ein Attentäter das Staatsoberhaupt meucheln wollen, befindet sich zum Glück ja weiterhin amerikanische Präsenz auf der Insel. Die US-Botschaft befindet sich nur wenige Kilometer entfernt. Sie ist selbstverständlich nicht so lari-fari naiv, unbedarft und schutzlos, sondern, ganz wie es sich gehört, von einem drei Meter hohen Stacheldrahtzaun mit automatischen Selbstschussanlagen umgeben. Hier verbieten aussagekräftige Schilder das Fotografieren, und wir müssen annehmen, bei Zuwiderhandlung nicht mit Blumenketten begrüßt zu werden.

Jede anständige Südseeinsel hat ihre Steinköpfe, man muss nur lange genug danach suchen. In unserem Fall befindet sich die größte Ansammlung ganz im Norden der Hauptinsel. Malerisch verteilt zwischen einer verschwenderischen Zahl mannshoher Monolithen, deren Bedeutung und Funktion unklar ist, wird in Bezug auf die Stein gewordenen Fratzen eine Sache schnell klar: Hier müssen fremde Mächte im Spiel gewesen sein! Und da Amazon um 160 vor Christus noch nicht nach Mikronesien lieferten, haben vermutlich Außerirdische die Steingesichter dort abgesetzt. Der Ranger, welcher den mutmaßlichen Weltraumschrott bewacht, erzählt uns, dass seine Vorfahren magische Kräfte besaßen, die heutzutage entweder in Vergessenheit geraten oder als gut gehütete Geheimnisse nur den Stammesältesten bekannt sind. Beispielsweise war es ihnen möglich, innerhalb von Sekunden von Koror zur 40 km südwestlich liegenden Insel Peleliu zu reisen, eine Fähigkeit, die wir uns wenig später gerne abschauen würden, als wir uns durch das Dickicht einen ausgetretenen Lehmpfad herunter arbeiten, der vom Regen völlig aufgeweicht zu einem malerisch gelegenen Wasserfall führt. Genau so abenteuerlich, aber weniger sportlich, wäre er durch eine Schienenbahn erreichbar, die allerdings nicht TÜV-geprüft ist. Außerdem steht zumindest für die abwärtsgerichtete Teilstrecke eine Seilbahn zur Verfügung, mit der man der Dschungeldusche an einem Geschirr hängend entgegen sausen kann. Nach einer kurzen Abwägung stelle ich fest, dass ich zwar nicht sehr sportlich bin. Aber im direkten Vergleich sportlicher als mutig. Wir marschieren. Und ohne die eineinhalb Stunden Fußmarsch runter und wieder rauf wäre dieses atemberaubend schöne, glitzernde und tosende Spektakel tief im Urwald vermutlich einfach nur ein Wasserfall. Der Ausflug erfüllt auf jeden Fall den Zweck, uns für unseren letzten Abend eine negative Kalorienbilanz zu verschaffen.

© 2012 Vera Wittenberg

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