Einen kleinen Augenblick habe ich Orientierungsschwierigkeiten, als um halb sechs der Wecker klingelt. Ich muss nicht duschen, Kaffee trinken und zur Arbeit fahren. Statt Allgemein-, Unfall- und Neurochirurgen warten heute bei der Visite echte Raubtiere auf mich. Micha und ich packen schweigend unsere Bade- und Tauchsachen zusammen. Der Kleinbus fährt um sechs.
An der Anlegestelle der Zodiacs geht gerade die Sonne auf und wir stellen fest, dass es um halb sieben noch verdammt kalt ist. Das nur halb getrocknete Neopren macht die Sache nicht besser. Außerdem hat der Wind tüchtig aufgefrischt, was uns außerdem fünf Meter hohe Wellen beschert. Unser Captain steuert das ‚Aufblasboot‘, wie Tauchlehrerin Ira aus Aserbaidschan mit ihrem charmanten Akzent das Speedboat mit Außenborder nennt, mit schlafwandlerischer Sicherheit auf unser Ziel zu. Der Fahrtkomfort in den nächsten 30 Minuten liegt irgendwo zwischen Bullenreiten und Achterbahn, und Steffi aus München macht noch bevor wir uns rittlings in die schäumende See werfen mehrere Farbumschläge durch. Ob es am Wetter liegt oder an der Nachsaison: heute haben wir Elphinstone, einen der zehn wohl besten Tauchplätze der Welt, ganz für uns.
Elphinstone kann man von unserer Hotelanlage gerade noch erkennen. Es liegt im offenen Meer, direkt am Horizont, und ist regelmäßig das Ziel von Tauchkreuzfahrt-Schiffen, die stahlend weiß zu uns herüber leuchten. Heute fahren selbst die großen Schiffe das Riff, das vollkommen intakt ist und von riesigen Fächergorgonien bewachsen wird. Wir brauchen drei Anläufe, bis wir endlich ins Wasser gleiten können, weil das Schlauchboot dafür für eine Minute ruhig liegen muss, so dass wir alle sechs und beide Guides unsere Ausrüstung anlegen können. Im vergangenen Jahr brauchen wir zwei Anläufe, um diesen Tauchgang zu machen, weil uns beim ersten Versuch die Strömung zum Abbruch zwang. Heute sind die Bedingungen unter der Wasseroberfläche viel besser als die Anfahrt uns hat vermuten lassen. An dem bananenförmigen Riff, das in Nord-Süd-Richtung verläuft und deren Wände nahezu senkrecht auf viele hundert Meter abfallen, herrscht oft eine starke Strömung, welche reichlich Haie anlockt. Im Winter bricht die Saison der Weißspitzen-Hochseehaie an, die bis zu drei Meter lang werden können. Heute ist die Strömung kaum spürbar, und so ist der Tauchgang ausgesprochen entspannt, wenn man davon absieht, dass wir es vermeiden zu flach zu tauchen, um nicht in die Waschmaschinenwellen an der Oberfläche zu geraten, die von unten aussehen wie Sturmwolken, nur dass sie sich viel schneller bewegen.
Nach dreißig Minuten zwischen Weichkorallen, Riesendrückern, Muränen und Napoleons driften wir langsam vom Riff weg, direkt ins Blau. Etwa zehn Minuten verbringen wir im Nirgendwo, bis sich plötzlich ein Schatten materialisiert, der unseren Puls höher schlagen lässt. Gut, dass unser Guide Michael uns vor unserem Aufbruch das kleine Einmaleins des Umgangs mit dem Longimanus erklärt hat. „Die sind so neugierig wie kleine Kätzchen“, hatte er uns erklärt. „Manchmal schwimmen sie direkt auf einen Taucher zu, um zu sehen, wer sich da in ihrem Gebiet herum treibt. Sie haben auch schon Taucher mit der Schnauze angestupst, um sie besser einschätzen zu können, aber sie tun euch nichts. Was immer sie machen, verfallt nicht in Panik, und wendet ihnen niemals den Rücken zu!“
Da das ‚Kätzchen‘ beim Briefing nicht anwesend war, sind wir trotzdem ein wenig aufgeregt, als der zweieinhalb Meter-Hai mit weit abgespreizten Brustflossen direkt auf uns zu schwimmt. Allerdings hat er offenbar kein Interesse daran, mit unserem Neopren auf Tuchfühlung zu gehen. Majestätisch schwimmt er bis auf Armeslänge auf uns heran, um dann elegant abzudrehen. Wie Beat, mein schweizer Unterwasserfotografie-Tutor mir erklärt, ist ‚Nahe dran‘ das Geheimnis wirklich gelungener Aufnahmen. Und ich frage mich, wie nahe ich dran sein muss, bis die Kamera weg ist – und die Arme auch! Voller Faszination beobachten wir das majestätische Tier, das offensichtlich aber keinen Appetit auf mein Kameragehäuse hat, so lange, bis er wieder im Blau verschwunden ist. Diesen Anblick nehmen wir tief beeindruckt mit uns an die Wasseroberfläche, und auch eine Stunde später, beim Frühstück, sind wir immer noch begeistert. So viel ist klar: sollte die Ausfahrt in den nächsten Tagen noch einmal angeboten werden, wird bei uns der Wecker wieder um halb sechs klingeln. Wir sind süchtig! Wir sind wieder dabei!
© 2012 Vera Wittenberg
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